Die menschliche Komödie in einhundert Variationen

Der von Giovanni Boccaccio vor 670 Jahren geschriebene Novellenband ‚Das Decameron‘ ist meine liebste Lektüre in den häuslichen Zeiten der durch Corona bedingten Ausgangsbeschränkungen gewesen. Dieses Buch – es wird auch gerne ‚Die menschliche Komödie‘ genannt – mit seiner Lebensklugheit, seinem Witz und seiner über der Zeit stehenden Menschlichkeit hat mir Zuversicht geschenkt.

Wegen der Corona-Krise sind Ausgangsbeschränkungen, Kontaktsperren und Reiseverbote angeordnet worden. Das hat uns alle in unseren Heim(arbeits)bereich und auf uns selbst zurückgeworfen. Mehr Zeit für viele andere Dinge ist dadurch freigeworden, auch zum verstärkten Lesen. So veröffentlichten mehrere Zeitungen spezielle Hitlisten von Buchempfehlungen in und für Pandemiezeiten.

Ich habe weder die beiden naheliegenden Bücher ‚Die Liebe in den Zeiten der Cholera‘ von Gabriel Márquez noch Albert Camus ‚Die Pest‘ in die Hand genommen. Ich fing an mit der Novelle ‚Das Erdbeben in Chili‘ von Heinrich von Kleist – zugegebenermaßen ist er mein Lieblingsklassiker. Es ist eine kurze, geniale und auch fürchterliche Kost. Danach schenkte mir meine Frau ein ungemein kompetentes und spannend zu lesendes Sachbuch ‚1918 – Die Welt im Fieber: Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte‘ von Laura Spinney. Diese Lektüre kann ich nur empfehlen, Parallelen zum Coronavirus SARS-CoV-2 und der daraus folgenden Lungenkrankheit Covid-19 wird jeder für sich finden und ziehen.

In einhundert Novellen werden alle Lebensbereiche und der Mittelmeerraum durchschritten

Und dann sind mir noch zwei dicke, seit Jahren wartende Lesebrocken zur Auswahl gestanden: Thomas Manns ‚Der Zauberberg‘ und Boccaccios ‚Das Decameron‘. Ich habe mich für die Novellen des Italieners entschieden, die er höchstwahrscheinlich zwischen 1348 und 1352 geschrieben hat. Meine Ausgabe – aus dem Nachlaß meines Großvaters – stammt von 1961 und ihr liegt wiederum eine Übersetzung des Dichters August Gottlieb Meißners von 1792 zu Grunde. Damit ist sie in einem etwas veraltetem und umständlichen Deutsch (ganz passend zu Kleist) , doch in einem herrlichen Stil voller eleganter Formulierungen und köstlicher Andeutungen geschrieben.

Der Inhalt des Decamerons, dieses Kleinods der Weltliteratur, dürfte bekannt sein, oder? Während der großen Pest von 1348 begeben sich zehn Florentiner Adelige außerhalb auf ein Landgut und erzählen sich innerhalb von vierzehn Tagen an deren zehn jeweils zehn Geschichten zum Zeitvertreib. So sind in einer losen Rahmenhandlung 100 Novellen versammelt, die von allen damaligen Lebensbereichen und Gesellschaftsschichten erzählen, angesiedelt vor allem in der Toskana und in Italien. Doch auch der gesamte Mittelmeerraum wird großzügig durchschritten. Gute Geographiekenntnisse schaden für das Verständnis mancher der Erzählungen nicht, wenn gleich mehrere Stationen auf Inseln von Mallorca bis Zypern genannt werden.

Nichts Menschliches ist Boccaccio fremd, auch nicht seine eigenen Schwächen

Es wird viel Gesellschaftskritik im Decameron geübt, Hohn und Spott hat es reichlich für die Kirche, den Klerus und auch für Advokaten. Die Bezüge zu Boccaccios eigener Biographie sind überreichlich, wenn man von seinem durch den Vater erzwungenen Rechtsstudium weiss und seinen verschmähten, unerfüllten Lieben. Berühmt, weil gerne nur in Auszügen gelesen, sind die vielen frivolen und dezent erotischen Stellen. Den unzähligen Ausgaben und Übersetzungen dieses Meisterwerks sind naturgemäss ebensoviele Zensur- und Umschreibversuche in jedem Zeitalter gefolgt.

Es hat alles Nichts genützt, unsterblich ist ‚Das Decameron‘. In Anlehnung an Dante Alighieris ‚Die göttliche Komödie‘ wird es daher auch als ‚Die menschliche Komödie‘ bezeichnet. Denn in diesen einhundert Erzählungen kommen alle Leidenschaften wie Liebe, Neid und Geltungssucht vor. Kein menschlicher Wesenszug ist Giovanni Boccaccio fremd und ihm gebührt der Verdienst des Genies, dies mit soviel Witz und Leichtigkeit zu beschreiben. Sein Werk, seine Humanität ist für viele nachfolgende Schriftsteller wie Shakespeare oder Molière Inspirationsquelle gewesen.

Im Geschlechterverhältnis des Spätmittelalters gibt es unter der patriarchischen Oberfläche auch subtile Freiheiten

Die damaligen Auffassungen von Ehre, den vermeintlichen Mannesrechten und damit der verlangten bedingungslosen Unterordnung der Frau sind für heutige Leser teilweise sehr befremdlich. Wenn man die Zeitbezüge des zu Ende gehenden höfischen Mittelalters mit seinem Standeswesen jedoch weglässt, dann wird der universelle, immer moderne Wesenskern der Novellen sichtbar. Und in vielen sind es gerade gewitzte Damen, welche die scheinbare Überlegenheit der Herren auszunutzen wissen, wenn denen mal wieder gewaltige Hormonschübe die Sinne trüben.

Dem Kenner sei nur der Satz gesagt „Sie hielt die Nachtigall noch in ihrer Hand“ und er wird wissend grinsen. Alle Anderen werden sich, wie so viele Generationen in den Jahrhunderten zuvor, ihren Decameron selbst erlesen müssen, um in den Genuß der Pointe zu kommen. Mir ist die Lektüre über viele Tage nicht nur vergnüglicher Zeitvertreib gewesen, sondern sie hat mich zudem gelehrt, daß in allen Krisenzeiten Gelassenheit und Zuversicht gute Ratgeber sein können, die damit Trost und Mut spenden.

‚Der Zauberberg‘ steht mir übrigens noch bevor, ich kann warten. Sollte es zu einer zweiten Pandemiewelle und einem erneuten Herunterfahren des öffentlichen Lebens kommen – was ich wirklich nicht hoffe – dann liegt der Stoff zur geistigen Beschäftigung schon bereit.

Ronald Siller | 3. Juni 2020

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